Was vor 10 Jahren noch weitestgehend belächelt wurde, hat sich heute zu einem kaum mehr wegzudenkenden Thema entwickelt: Ergonomie im Radsport. Sättel, Griffe, Fahrradrahmen und viele weitere Produkte werden ergonomisch gestaltet, um das Fahrvergnügen auf dem Fahrrad zu steigern und die Leistungsfähigkeit zu verbessern. Um den ergonomischen Geheimnissen auf die Spur zu kommen forschen Unternehmen unentwegt an ihren Produkten und versuchen mit unterschiedlichen Tests ihre Fahrradprodukte noch ergonomischer und demzufolge besser zu machen. Auch ergonomische Produkte für Damen werden in der zum Teil immer noch von Männern dominierten Radsportwelt wichtiger. Aus diesem Grund haben wir uns zu diesem Thema mit den Ergonomie-Experten Dagny und Simon von der Firma Ergon unterhalten.
Dagny und Simon sind bei Ergon in der Ergonomie-Abteilung tätig.
Hallo ihr beiden, stellt euch und eure Position bei Ergon doch bitte kurz vor, damit unsere Leser wissen, mit wem sie es zu tun haben.
Dagny: Hi, ich bin Dagny und habe meine Masterarbeit bei Ergon geschrieben. Ich arbeite jetzt in der Ergonomie-Abteilung und betreue hier die Grundlagenforschung.
Simon: Hallo zusammen, ich bin Simon und leite aktuell in Vertretung die Abteilung Ergonomie.
Das Thema Ergonomie beim Radfahren ist in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden. Vor allem auch ergonomische Produkte für Frauen sind auf dem Vormarsch. Was denkt ihr, woran das liegt?
Dagny: Immer mehr Menschen fahren Fahrrad. Gleichzeitig ist das Gesundheitsbewusstsein deutlich gestiegen und die Beschwerden, speziell der Frauen, werden sensibel wahrgenommen. Hier werden Lösungen gesucht, um möglichst beschwerdefrei fahren zu können.
Ergonomische Produkte versprechen ein längeres Durchhaltevermögen auf dem Rad, einen besseren Kontakt zum Bike, weniger Schmerzen und vieles mehr. Was sind für euch die wichtigsten Aspekte, wenn es um Neuentwicklungen geht?
Simon: Wichtig ist uns, dass das Produkt auf eine Zielgruppe ausgerichtet wird, um bestehende ergonomische Probleme genau zu erkennen. Dann können wir Merkmale entwickeln, die eine möglichst breite Masse erreichen und einen spürbaren Nutzen erzielen.
Die Nutzung verschiedener Messgeräte und Tools ist bei der Entwicklung ergonomischer Fahrradteile an der Tagesordnung.
Die Anatomie von Männern und Frauen unterscheidet sich in vielen Bereichen stark. Was bedeutet das für ergonomische Bike Parts?
Dagny: Es gibt speziell für Frauen angepasste Rahmen-Geometrien, um die meist kürzeren Oberkörper und kürzeren Armlängen zu kompensieren. Und natürlich Sättel, die sich in ihren Konturen und Entlastungszonen unterscheiden. Zum Thema frauenspezifische Sättel haben wir vor einigen Jahren ganz von vorn mit einer umfangreichen Studie begonnen, in der wir das Becken per Computertomographie und Röntgen untersucht haben. Das hat neben den bereits bekannten Unterschieden im Weichteilgewebe und Nervensystem auch zu ganz neuen Erkenntnissen über die knöchernen Strukturen und Sitz-Typologien geführt – und die Notwendigkeit von speziellen Frauen-Sätteln eindeutig bewiesen.
Der Erfolg unserer SR (Rennrad) und SM (Mountain) Women Serien gibt uns diesbezüglich auch recht. Besonders das Hauptproblem bei Frauen in sportlicher Sitzposition, den typischen Druck weit vorn am Sattel, können wir in nahezu allen Fällen stoppen.
Mittels Computertomographie und Röntgenuntersuchungen wird bei Ergon am optimalen ergonomischen Ergebnis geforscht.
Wie geht ihr bei Ergon grundsätzlich die Entwicklung eines ergonomischen Produkts an?
Simon: Wir betreiben einen großen Aufwand in unserer Grundlagenforschung, um die Probleme beim Radfahren noch besser zu verstehen. Diese Erkenntnisse fließen mit in unsere Produktentwicklung ein. Das heißt, am Anfang eines Produkts steht immer eine ausgedehnte Recherche, um die speziellen ergonomischen Merkmale zu entwickeln. Im weiteren Verlauf werden diese so lange getestet und verbessert, bis wir damit zufrieden sind. Hier sind wir intern sehr breit aufgestellt. Unsere Entwicklungsabteilung in Koblenz umfasst ca. 30 Expert*innen aus den Fachgebieten Ergonomie, Design und Engineering. Wir können fahrfähige Prototypen unserer Ideen und Konzepte inhouse schnell selbst herstellen und testen. Dafür haben wir einen großen Pool an Testfahrer*innen bis hin zu Weltklasse-Profis, die uns vor der Serienfertigung ihr Feedback geben. So können wir sicher sein, dass unsere Produkte auch wirklich für die verschiedenen Disziplinen und Ansprüche funktionieren.
Testen, Bewerten und Anpassen sind für uns also besonders wichtig und sehr zeitintensiv. Wir haben ein großes Netzwerk an Athletinnen in allen Bike-Bereichen, unter anderem das Canyon/SRAM WMN Cycling Team, Vali Höll, Tahnee Seagrave und viele andere, mit denen wir intensiv zusammenarbeiten.
Alles für die richtige Sitzposition – mit aufwendigen Messungen werden die Bewegungen auf dem Sattel erfasst.
Was würdet ihr einer Frau raten, die ihr Fahrgefühl auf dem Fahrrad verbessern möchte?
Dagny: Zunächst sollte sie ihre Sitzposition überprüfen und anpassen. Das ist die Basis für ein gutes Fahrgefühl und im Übrigen auch dafür, dass ergonomische Produkte funktionieren. Wenn ihr z. B. 4 cm zu hoch sitzt, kann auch der beste Sattel nichts mehr verbessern. Dabei ist es wichtig, Änderungen z. B. an der Sitzhöhe immer in kleinen Schritten vorzunehmen und jedes Mal bei einer Probefahrt zu überprüfen, ob Verbesserungen spürbar sind.
Weiterhin empfehle ich einen Sattel mit frauenspezifischen Merkmalen, da besonders im Kontaktpunkt „Sitzen“ die allermeisten und unangenehmsten Probleme auftauchen.
Simon: Das Beseitigen von Sitzproblemen ist oft schon eine riesige Verbesserung für das Fahrgefühl und somit Voraussetzung für einen großartigen Tag auf dem Rad. Aber zum Thema Fahrgefühl: Wir haben bei Ergon mit unseren neuen Core-Serien die Konstruktion des Fahrradsattels völlig verändert. Zum Beispiel haben wir einen vollflächigen Dämpfungslayer eingebaut. Dieser sorgt dafür, dass der Sattel alle Bewegungen in alle Richtungen ganz definiert unterstützt und dabei auch noch Vibrationen rausfiltert. Viele Kund*innen haben uns mitgeteilt, dass die Sättel wirklich für ein neues Fahrgefühl sorgen und auch hartnäckige Sitzprobleme lösen
Welches ergonomische Produkt für Frauen hat eurer Meinung nach den größten positiven Einfluss auf das Fahrgefühl?
Dagny: Das Wichtigste ist eine ergonomische Körperhaltung. Das heißt, die Sattelhöhe ist richtig eingestellt und der Reach, sprich die Grifflänge, passt zu euch. So sitzt ihr optimal auf dem Rad und könnt effizient pedalieren. Hinzu kommt der Sattel als Schnittstelle mit dem größten Einfluss auf das Komfortempfinden.
Die Experten sind sich einig, dass ein professionelles Bikefitting immer sinnvoll ist.
Ist es notwendig, vor der Montage ergonomischer Anbauteile ein Bikefitting, sprich eine Abstimmung mit einem Profi, zu machen?
Dagny: Ein Bikefitting macht immer Sinn, speziell wenn ihr Beschwerden beim Radeln habt. Unser Kollege Dr. Kim Tofaute, der auch Bikefitter ist, hat schon vor einiger Zeit sein Wissen in eine praktische Do-it-yourself-Anleitung gesteckt. Herausgekommen ist die Ergon Fitting Box. Hier gibt’s kompetentes Wissen, Schablonen und Tools. Alles ist einfach und nachvollziehbar aufgebaut, sodass ihr euer Rad ergonomisch auf euch einstellen könnt. Die Box kann zwar kein professionelles Bikefitting ersetzen, reicht aber selbst für ambitionierte Radfahrer*innen oft schon aus und kostet mit 30 Euro auch nur einen Bruchteil. Diese positiven Veränderungen sind meist direkt zu spüren.
Vielen Dank für eure spannenden Einblicke und weiterhin viel Erfolg bei der Entwicklung.
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